Befasst man sich intensiver mit den großen Machtblöcken USA und China, wird schnell klar, dass beide sich in zwei völlig unterschiedliche Strategien und Pfade in ihrer KI-Entwicklung aufgemacht haben. Was oft als „Rennen“ dargestellt wird, erscheint mir in Wahrheit wie ein Vergleich zwischen zwei Systemen, die mit sehr verschiedenen Zielen, Methoden und politischen Realitäten operieren.
Auf der einen Seite: ein von Tech-Milliarden, Wagniskapital und einem nahezu religiösen Glauben an die Entstehung künstlicher Superintelligenz getriebenes Silicon Valley. Auf der anderen Seite: ein staatlich orchestrierter Ansatz, der Künstliche Intelligenz als Infrastruktur betrachtet. Als Werkzeug zur Stabilisierung, Produktivitätssteigerung und langfristigen Wettbewerbsfähigkeit.
Ich bin überzeugt davon, wer diese Differenz nicht versteht, wird auch die Dynamik der nächsten Jahre nicht verstehen. Denn was hier verhandelt wird, ist nicht nur technologische Entwicklung. Es ist die Frage, welche gesellschaftlichen Modelle wir in Software gießen. Mit möglicherweise sehr langfristigen Folgen.
Ein sehr spannendes Thema… und ebenso spannend: Welche Ableitungen können und müssen wir Europäer*innen daraus eigentlich ziehen? Ich habe mir das mal genauer angeschaut. Kurz gesagt: Die USA optimieren für Skalierung, Kapital und geopolitische Leverage. China für breite, alltagsnahe Integration als Infrastruktur. Wer das verwechselt, missversteht KI als Technik und als Politik. Und könnte für Europa die falschen Schlüsse ziehen.
Das falsche Rennen
Dass China und die USA in puncto KI konkurrieren, ist selbstverständlich keine neue Beobachtung. Doch wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass sie eben gar nicht auf dasselbe Ziel zuzurennen scheinen. Während China Künstliche Intelligenz Schritt für Schritt in alltägliche Prozesse integriert – vom Smart Farming über medizinische Diagnostik bis zur Verkehrslenkung – arbeitet sich das US-amerikanische KI-Ökosystem an einem gänzlich anderen Vorhaben ab. Nämlich dem Bau einer sogenannten „Artificial General Intelligence“ (AGI), einer hypothetischen Superintelligenz, die uns Menschen in allen denkbaren kognitiven Bereichen übertrifft.
Diese Zielsetzung ist nicht nur technisch überaus ambitioniert, sie ist auch ökonomisch und ideologisch gewaltig aufgeladen. In weiten Teilen der US-Tech-Elite gilt AGI als Endpunkt einer Fortschrittserzählung, die in etwa so klingt: Wer AGI zuerst entwickelt oder erreicht, gewinnt nicht nur ein Produkt, sondern gleich die ganze Zukunft.
Das hat Folgen. Investitionen fließen überproportional in große Sprachmodelle, die menschliches Denken imitieren sollen. Und nicht unbedingt in solche, die reale Probleme lösen, von denen man ja nun wahrlich genug identifizieren könnte. Gleichzeitig entstehen politische Allianzen, Lobbygruppen und Super-PACs. Das sind Wahlkampf-Komitees, die unbegrenzt Geld von Unternehmen, Verbänden und Einzelpersonen sammeln und für politische Werbung ausgeben dürfen, ohne aber offiziell direkt mit Kandidat*innen zusammenzuarbeiten. Das Ziel dieser Akteure und Gruppen ist es, genau diese AGI-Zukunft zu ermöglichen. Und zwar möglichst unreguliert, möglichst profitabel, möglichst monopolisiert.
China hingegen verfolgt ein anderes Narrativ. Dort geht es nicht um die Schöpfung einer neuen Intelligenz, sondern um die Optimierung bestehender Systeme. KI soll effizient machen, China wettbewerbsfähig halten, Kontrolle ermöglichen. Nicht unbedingt als erstes im dystopischen Sinn (wobei… abwarten…), sondern als strategisches Mittel staatlicher Planung.
Kurz gesagt: Die USA träumen von der Krönung einer Maschine zur Königin der Intelligenz. China schreibt Algorithmen in die Gebrauchsanweisung seiner Industriepolitik. Das sind zwei sehr verschiedene Ansätze, mit sehr unterschiedlichen Implikationen.
USA: AGI als Kapital-Rausch und Glaubenssystem
In den USA ist KI weniger Technik als Projektionsfläche. Für Renditefantasien, geopolitische Ambitionen und eine quasi-religiöse AGI-Erzählung. In dieser Logik wird AGI zum „Moonshot“, der eine neue Infrastruktur-Ordnung verspricht… mit Winner-takes-all-Effekten.
Im Fall von AGI bedeutet das: Wer es schafft, als Erster eine solche Superintelligenz zu bauen, könnte die Infrastruktur für eine neue technologische (Welt-)Ordnung kontrollieren. Vielleicht für immer. Ein Winner-takes-all-Szenario, gespeist aus der Vorstellung, dass AGI-Entwicklung nicht nur die nächste mind-blowing Customer-Experience liefert, sondern eine ganz neue Form von Macht.
Dazu passt, dass sich rund um das AGI-Versprechen ein zunehmend politisches Ökosystem bildet. Die schon genannten Super-PACs wie das gerade frisch gegründete „Leading the Future“, gegründet von Tech-Investoren und KI-Firmen, sammeln inzwischen dreistellige Millionenbeträge, um pro-AGI-Kandidaten zu unterstützen und Regulierungsversuche gezielt auszubremsen. Die Botschaft: Wer KI bremst, bremst Amerika. Das klingt im Original so:
“There is a vast force out there that’s looking to slow down AI deployment, prevent the American worker from benefiting from the U.S. leading in global innovation and job creation, and erect a patchwork of regulation,”
Gleichzeitig sehen sich viele der Protagonisten dieser Bewegung als Pioniere einer neuen Zivilisation. Für Außenstehende mag das heroisch aufgeladen wirken. Aber die Argumentation folgt einem klassischen techno-futuristischen Drehbuch. Wer dieser Denkrichtung anhängt, denkt AGI sei nicht nur möglich, sondern unausweichlich. Und wenn sie kommt, soll sie natürlich in „guten Händen“ liegen. Damit sind selbstverständlich die eigenen gemeint. Das Ergebnis ist eine seltsame Allianz aus religiösem Unterton, Marktlogik und geopolitischer Selbstvergewisserung. AGI erscheint darin nicht mehr als Technologie, sondern als Schicksal. Und wer zu früh reguliert, stört das höhere Ziel.
Diese Dynamik hat Konsequenzen. Während KI-Systeme wie ChatGPT oder Claude Milliardeninvestitionen anziehen, wird vergleichsweise wenig in Anwendungen gesteckt, die tatsächlich gesellschaftliche Probleme lösen. Etwa in Bildung, Gesundheit oder Pflege. Die sogenannte „AI for good„-Bewegung existiert, aber sie spielt innerhalb dieses Systems nur eine Nebenrolle.
Denn für die allermeisten der nach 30 Jahren Silicon Valley Tech-Dominanz extrem wohlhabenden und mächtigen Akteure geht es nicht darum was nützlich ist. Es geht darum, was skalierbar ist. Was das System, welches diese Elite weiter begünstigt am Laufen hält und dauerhaft Macht und Einfluss absichert.
China: KI als Werkzeug zur Systemstabilisierung
Während die USA also darauf setzen, eine allgemeine Superintelligenz zu erschaffen, verfolgt China einen ganz anderen Kurs. Künstliche Intelligenz wird dort nicht als metaphysisches Projekt verstanden, sondern als Werkzeug zur Lösung konkreter Probleme. Und natürlich zur strategischen Stärkung des Staates.
Das zentrale Stichwort lautet: Integration. Mit dem Programm „AI Plus“ treibt die KP seit 2023 gezielt die Durchdringung verschiedenster Sektoren mit KI voran. Von der Landwirtschaft über die Industrie bis hin zum Gesundheitswesen. Ausgegebenes Ziel ist es, die Produktivität zu steigern, Ineffizienzen zu verringern und die technologische Eigenständigkeit auszubauen.
Das Konzept klingt viel pragmatischer, aber dennoch sehr ambitioniert. Statt auf spektakuläre Durchbrüche zu warten, geht es um eine schnelle, greifbare und breite Anwendung: KI-gestützte Diagnose-Apps, autonom gesteuerte Lastwagenflotten, intelligente Verkehrsleitsysteme oder landesweite Bildungsplattformen mit personalisierten Lernmodellen. Der Fokus liegt auf Alltagsnähe, Skalierbarkeit, und – wie gesagt – Kontrolle.
Diese Strategie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern die Folge politischer Erfahrungen. Der amerikanische Umgang mit Huawei, die Exportverbote für Hochleistungschips (allerdings gerade für billiges „Dealmaking” aufgeweicht), die Enthüllungen rund um NSA-Überwachung und Cloud-Abhängigkeiten haben Peking vor Augen geführt, wie verwundbar technologische Abhängigkeit macht. Die Konsequenz: Ein „ganze-Nation“-Ansatz zur technologischen Selbstbefähigung. Inklusive massivem Ausbau der eigenen Halbleiter- und Recheninfrastruktur.
China baut kein Startup-Ökosystem im Silicon-Valley-Stil. Es baut einen strategischen Stack (eng gekoppelter Technologie-Verbund aus Chips, Rechenzentren, Netzen, Daten, Modellen, Anwendungen). Dabei verfolgt der Staat eine doppelte Logik. Einerseits soll KI die Innovationskraft der chinesischen Wirtschaft steigern und damit den globalen Rückstand verringern und langfristig in eine Führung verwandeln. Andererseits dient sie als Mittel, um staatliche Steuerung effizienter, vorausschauender und resilienter zu gestalten. Das Ergebnis wäre eine Form von technokratischer Digitalisierung, die in weiten Teilen des Landes nicht als Bedrohung, sondern als Fortschritt wahrgenommen wird. Aktuelle Umfragen (z. B. Ipsos AI Monitor 2024, Stanford HAI AI Index 2025) zeigen: In China überwiegt der Optimismus gegenüber KI deutlich. In den USA fällt die Zustimmung spürbar niedriger aus.
Aus westlich-freiheitlicher Sicht bringt der chinesische Weg klare Risiken mit sich, etwa in Bezug auf Überwachung, Meinungsfreiheit und zentrale Machtkonzentration. Aber das ist aus chinesischer Sicht nun mal Staats-DNA. Und hat für die KP natürlich den Vorteil, dass der Nutzen für die Bevölkerung dort eher sicht- und spürbar wird. Und das kann einen Unterschied machen, auch auf geopolitischer Ebene. Denn während im Westen über Regulierung gestritten oder von AGI geträumt wird, könnte China demonstrieren: KI kann auch einfach funktionieren.
Ist der Kapitalismus nach US-Prägung in diesem Wettstreit der Feind der Innovation?
Man könnte doch eigentlich meinen, die USA hätten alle Voraussetzungen, um beim Thema KI ganz natürlich ganz vorne mitzuspielen: Talente, Risikokapital, Unternehmertum, Rechenpower. Doch in der Praxis zeigt sich ein paradoxes Muster: Viele der Versprechen, die mit KI verknüpft werden – etwa Effizienzgewinne, Automatisierung im Gesundheitswesen oder digitale Bildungssysteme – bleiben hinter ihrem Potential zurück.
Der Grund liegt möglicherweise nicht in der Technologie, sondern im System. Bei einer ehrlichen Bewertung ist der US-Tech-Kapitalismus ja gar nicht darauf ausgelegt, gesellschaftlichen Nutzen zu maximieren. Sondern einzig und allein Rendite. Und das schnell, exponentiell und möglichst exklusiv. Das führt dazu, dass gerade dort, wo KI potenziell große Verbesserungen im Alltag bringen könnte, oft keine ausreichenden wirtschaftlichen Anreize bestehen.
Ein Beispiel: Die Frage, warum amerikanische Farmer kaum KI-gestützte Systeme zur Ertragsoptimierung einsetzen. Weil große Agrarkonzerne wie John Deere eigene, proprietäre Plattformen betreiben, die weder interoperabel noch offen sind. Wer nicht das vollständige Paket aus Hardware, Software und Daten kauft, bleibt außen vor. Innovation wird nicht verhindert, weil sie unmöglich ist, sondern weil sie sich nicht lohnt.
Dieses Muster lässt sich in vielen Sektoren beobachten: Pflege, Bildung, Energie, öffentlicher Verkehr. Überall dort, wo der ROI nicht innerhalb von Quartalen messbar ist oder Geschäftsmodelle schwer zu monopolisieren sind, bleibt KI-Integration Stückwerk. Dazu kommt: Wer KI ausschließlich über Wagniskapital finanziert, bekommt auch nur bestimmte Arten von Lösungen. Vor allem skalierbare Produkte, die Daten absaugen, Nutzende binden und Märkte dominieren. Aber nicht unbedingt Tools, die reale Probleme lösen oder öffentliches Leben verbessern.
In gewisser Weise funktioniert der KI-Kapitalismus wie eine Suchmaschine mit aktivem Filter: Er blendet alles aus, was sich nicht innerhalb von kürzester Zeit zu Geld machen lässt. Viele amerikanische Gen-KI-Projekte bleiben im Demostatus hängen: beeindruckende Piloten, aber wenige produktive Integrationen mit messbaren Effekten auf Kosten, Qualität oder Zugang. Sie sind Proof of Concept, aber kein Proof of Value. Was fehlt, ist nicht Rechenleistung. Sondern ein systemischer Rahmen, in dem technologische Möglichkeiten in gesellschaftlich sinnvolle Innovationen übersetzt werden. China versucht diesen Rahmen staatlich zu schaffen. Europa könnte ihn regulativ schaffen. Die USA – so scheint es – haben sich aber auf einen völlig anderen Pfad festgelegt.
Hinzu kommt: In den USA fehlt eine kohärente Gesamtstrategie. Statt einer klaren Linie prallen auch durchaus verschiedene Interessen aufeinander: von Silicon-Valley-Investoren mit AGI-Heilsversprechen über militärisch-strategische Denker bis hin zu Tech-Realisten, die Produktivität in den Vordergrund stellen. Ein besonders prägnantes Beispiel hierfür ist die Person Eric Schmidt, ehemals CEO von Google/Alphabet. Er schafft es, vieler solcher widersprüchlichen Narrative in ein und derselben Person zu vertreten. Je nach Anlass. Er spricht etwa mal von einer neuen „Renaissance“ durch AGI, warnt dann wieder vor zu viel Hype und argumentiert anderswo mit der Notwendigkeit, KI als geopolitische Waffe gegen China einzusetzen. Diese Gleichzeitigkeit macht deutlich: Der amerikanische KI-Kapitalismus ist nicht nur ein ökonomisches Systemproblem, sondern auch ein politisches und narratives. Ohne gemeinsames Ziel, aber mit maximalem Einfluss derjenigen, die Kapital und Plattformen kontrollieren.
Diese Widersprüchlichkeit ist für mich allerdings nicht nur Ausdruck von Chaos oder Naivität, sondern auch von Kalkül. Denn die einflussreichsten CEOs, Investoren und politischen Einflüsterer formulieren ihre Narrative so, wie es ihnen den größten Kapitalzufluss und die geringste Regulierung verspricht. Wenn mal AGI als unvermeidliches Zukunftsprojekt ausgerufen, mal als existenzielles Risiko beschworen, mal als geopolitische Waffe gegen China ins Spiel gebracht wird, ist das nicht unbedingt inkonsistent. Hauptsache es schweben genug Gespenster in der Luft, die gerade die höchsten Investitionen mobilisieren können. Und wenn der AGI-Hype abkühlt, bleibt immer noch der geopolitische Wettstreit als Begründung. Hauptsache, die Milliardenströme in Richtung der eigenen Unternehmen reißen nicht ab. Sam Altman hat dieses Muster auf die Spitze getrieben, in dem er Investitionen in Billionenhöhe forderte. Berichte sprachen Anfang 2024 von bis zu 7 Billionen US-Dollar für KI-Infrastruktur (Chips, Rechenzentren, Lieferketten), um die Führungsrolle zu sichern.
Geopolitik vs. Gemeinwohl
Weil sich die Rolle von KI als Waffe im geopolitischen Konflikt immer stärker etabliert, nochmal ein genauerer Blick hierauf. In Washington wird KI immer deutlicher zur geopolitischen Waffe hochstilisiert. Als ein Instrument im globalen Machtspiel. Was in der rein kapitalistischen Logik die Rendite ist, ist in der internationalen Politik die Logik der Abschreckung.
Das Konzept der Weaponized Interdependence beschreibt das präzise. Kontrolle über Knotenpunkte – Chips, Cloud, Zahlungsnetze, Standards – wird zum außenpolitischen Hebel. KI fügt sich nahtlos ein, wenn sie als Plattform bei wenigen US-Akteuren gebündelt bleibt. Entsprechend sehen wir schärfere Exportkontrollen Richtung China und den Versuch, Standards (technisch und regulatorisch) global zu prägen. Für Akteure außerhalb dieses Machtspiels – inklusive Europa – steigen damit Anpassungs- und Abhängigkeitskosten.
China reagiert darauf mit dem bereits skizzierten Aufbau eigener Stacks, also technologischer Lieferketten, die vom Prozessor bis zur Software unabhängig vom Westen funktionieren sollen. Gleichzeitig nutzt Peking seine eigene Position bei seltenen Erden oder in der Batterieproduktion, um seinerseits Druck aufzubauen. Kurz gesagt: Auch China hat gelernt, wie man Interdependenz in Einfluss umwandelt.
Was dabei auf der Strecke bleibt, ist eine Vorstellung von KI als globales Gemeingut. Oder zumindest als Technologie mit kollektivem Nutzen. Wer KI nur unter geopolitischem Blickwinkel betrachtet, priorisiert Kontrolle vor Wirkung, Abschreckung vor Zugang, und Machterhalt vor Teilhabe.
Statt also die Frage zu stellen, wo und wie KI Menschen konkret helfen kann – in Bildung, Medizin, Verwaltung oder Klimaresilienz –, diskutieren große Teile der US-Strategie über Einflusszonen, Stack-Souveränität und digitale Allianzen. Das ist rational, wenn man die Welt als Nullsummenspiel versteht. Aber es ist kaum geeignet, um Vertrauen in eine Technologie zu schaffen, die so tief in gesellschaftliche Prozesse eingreifen wird wie kaum eine zuvor. Hier gibt es aus US-Sicht ein absolutes Vakuum.
Zwischen Autokratie und Pluralismus
Was wäre nun die bessere Lösung, KI strategisch anzugehen? Der chinesische Ansatz hat unbestreitbar den Vorteil einer enormen Durchschlagskraft. Ressourcen können gebündelt, Prioritäten schnell gesetzt und Anwendungen in großem Maßstab umgesetzt werden. Ob das Land damit tatsächlich den richtigen Weg eingeschlagen hat, ist allerdings offen. Positiv wirkt auf mich der Fokus auf praktische Use Cases, weniger getrieben von den techno-religiösen Fantasien, die in den USA dominieren. Doch die Kehrseite liegt auf der Hand. China ist kein freies Land. Strategische Klarheit entsteht dort nicht aus Debatte, sondern aus Einparteienherrschaft.
Die USA wiederum verkörpern das Gegenmodell. Ideen konkurrieren, es gibt pluralistische Stimmen, und prinzipiell könnte ein echter Wettbewerb um den besten Ansatz entstehen. In der Praxis aber sind die maßgeblichen Kräfte eben ganz offensichtlich nicht gemeinwohlorientiert. Sie sind getrieben von Kapitalinteressen, geopolitischen Kalkülen und der Suche nach politischem Einfluss. Vielfalt ist also da, aber nicht unbedingt Vielfalt im Dienste der Gesellschaft.
Beide Systeme zeigen damit ihre Schattenseiten. Autokratische Durchschlagskraft birgt das Risiko strategischer Verirrung ohne Korrektiv. Pluralistische Vielfalt droht, in einem Wettbewerb von Narrativen zu verpuffen, die alle vor allem eines eint: der Kampf um Ressourcen und Regulierungsvorteile.
Für mich steht fest: Es braucht einen dritten Weg.
Der dritte Weg: Europas Chance im KI-Zeitalter
Und da müssen wir natürlich mal auf uns Europäer schauen. Europa steht in dieser Konstellation zwischen zwei Modellen, die für unseren Anspruch wenig anschlussfähig sind. Das amerikanische KI-System ist getrieben von Kapital und von einem quasi-religiös überhöhten Fortschrittsnarrativ, das praktische Fragen gern ignoriert. Das chinesische Modell ist zwar pragmatisch, aber in eine autoritäre Logik eingebettet, die wenig Raum für Pluralität lässt.
Und daraus ergibt sich eine klare Chance: Europa muss nicht versuchen, ein zweites Silicon Valley zu werden. Und auch nicht ein Mini-China. Wir können und müssen einen dritten Weg einschlagen.
Dürfte ich es entscheiden, hätte dieser Weg drei Kernmerkmale:
- Infrastruktur als Gemeingut: Euro-Compute & offene Modelle (öffentlich finanzierte Rechenzentren, Open-Model-Fonds, Public Datasets mit klaren Lizenzen).
Ein europäischer KI-Stack, der auf offener Software, gemeinsamer Recheninfrastruktur und klaren Standards beruht. Nicht jeder Mitgliedsstaat muss alles selbst aufbauen. Aber es braucht die Fähigkeit, zentrale Technologien unabhängig nutzen und weiterentwickeln zu können. - Regulierung als Standortvorteil: Auditierbarkeit, Risikodokumentation, Interoperabilitätspflichten als Vertrauenssiegel für europäische KI.
Die oft gescholtene EU-Gesetzgebung ist nicht nur Bürokratie. Sie ist auch ein Asset: Wer weltweit auf europäische menschenzentrierte Standards setzt, gewinnt Vertrauen. Transparenz, Auditierbarkeit, Schutz vor Missbrauch. Das kann zu einer Art „Markensiegel“ für europäische KI werden. - Gemeinwohl als Narrativ: Referenzprojekte in Pflege, Verkehr, Bildung, Energie (z. B. KI-Pflegepiloten, ÖPNV-Optimierung, Lehr-Co-Piloten, Smart-Grid-Steuerung).
Europa kann und sollte KI nicht über Hype verkaufen, sondern über Nutzen. In der Pflege, im Verkehr, in der Bildung, in der Energieeffizienz. Also genau dort, wo die USA kaum Anreize setzen und China politische Kontrolle priorisiert. Ethik und Skepsis sind dabei kein Bremsklotz, sondern ein Wettbewerbsvorteil. Sie sorgen dafür, dass Innovation auf gesellschaftlich fruchtbaren Boden fällt.
Natürlich gibt es Hindernisse. Von der fragmentierten Forschungslandschaft über fehlendes Risikokapital bis zur politischen Uneinigkeit. Aber lasst uns doch mal einen solchen Raum vorstellen: Ein Modell, das Souveränität mit Gemeinwohl verbindet, könnte international attraktiv sein. Denn nicht alle Länder wollen von amerikanischen Konzernen oder chinesischem Staatskapital abhängig sein. Für eine solche Vision sollte die EU und ihre Mitgliedsstaaten ausreichend Geld bereitstellen.
Am Ende steht für mich eins fest: Es zählt, wer definiert, wofür KI da ist. Europa gewinnt nicht, wenn es kopiert, sondern wenn es definiert. Infrastruktur als Gemeingut, Regulierung als Vertrauensvorteil, Nutzen fürs Gemeinwohl. Das ist digitale Selbstbestimmung im 21. Jahrhundert.

